Eine Gruppe von jungen SPD-Politikern in Nordrhein-Westfalen will heilige Kühe der sozialdemokratischen Bildungspolitik schlachten.
Junge Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen fordern eine radikale Bildungsreform. Auch an der Schul- und Hochschulpolitik ihrer eigenen Partei lassen sie kein gutes Haar.
Ein Bericht von Jürgen Zurheide (Düsseldorf) in der Stuttgarter Zeitung vom 08.11.2002.
Jochen Ott ist über die Reaktion selbst überrascht. Schon kurz nachdem er dem einen oder anderen das Bildungspapier von insgesamt 23 jungen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in die Hand gedrückt hatte, erreichten ihn unerwartet positive Reaktionen. "Selbst Harald Schartau und Peer Steinbrück sind ausgesprochen freundlich damit umgegangen", sagt fröhlich der junge Vorsitzende der Kölner SPD.
Seit einigen Wochen hatte sich die junge Truppe der Genossen immer mal wieder getroffen und an dem Papier gefeilt, das mit manchem aufräumt, was bisher unter sozialdemokratischen Bildungspolitikern als heilig gilt. Wo Schulministerin Gabriele Behler noch vorsichtig über eine größere Selbstständigkeit der Schulen nachdenkt und eng begrenzte Versuche zulässt, wollen die Jungen die volle Autonomie der Schulen und auch gleich die Regierungspräsidien als Kontrollbehörde abschaffen. Dass die bisherigen Bildungspolitiker der SPD die nach Pisa notwendigen Reformen auch wirklich durchsetzen, glauben sie nicht mehr. "Trotz dieser Aktualität scheint die Riege der verantwortlichen Bildungspolitiker erstarrt zu sein und in unerklärlicher Passivität zu verharren", kritisieren die 23 Erstunterzeichner des Papiers. Neben Ott und dem Kölner Fraktionschef der Sozialdemokraten, Martin Börschel, hat auch der Bonner Bundestagsabgeordnete Uli Kelber an dem Papier gearbeitet.
Die junge Truppe vertraut auf die Kraft der 142 000 Lehrer und Lehrerinnen im Lande, verlangt aber, dass sie von der ungeheuren Bürokratie künftig weniger behindert werden. "Erlasse, Gesetze, Wünsche, Forderungen, Theorien – jeden Tag prasseln schöne Ideen, aber auch grober Unfug auf die direkt Verantwortlichen ein", schreiben sie über die ministerielle Regelungswut, die sie kräftig einschränken möchten. "Jede Schule ist in Zukunft für sich selbst verantwortlich", lautet daher ihr Credo. Beginnen soll das damit, dass die Schulleiter künftig in der Schule selbst gewählt werden. "Gebt den Fachleuten die Verantwortung", verlangen sie und schlagen deshalb die Abschaffung der Regierungspräsidien als bisher für alle Schulbelange zuständige Mittelbehörde vor. Die Kommunen sollen als Träger für die Schulen zuständig sein, das Ministerium darf nur noch über die Bildungsstandards wachen. Eine gleiche Ausbildung im ganzen Lande will man durch zentrale Prüfungen erreichen: "Deshalb wird am Ende der Stufen 6 und 9 und mit dem Abitur eine landeseinheitliche Prüfung in den Kernkompetenzen durchgeführt."
Die Schulzeit soll um ein halbes Jahr bei Abiturienten verkürzt werden. Im ersten Halbjahr der Klasse elf sollen leistungsschwache Schüler ihr Wissen vertiefen, alle anderen sollten es für einen Auslandsaufenthalt nutzen. Wo eine differenzierte Oberstufe aus finanziellen Gründen nicht mehr gehalten werden kann, plädiert man für den Vorrang der Kernfächer; in diesem Fall will man sozialdemokratische Entscheidungen der 70er Jahre wieder kassieren.
Ganz grundsätzlich geht man davon aus, dass auch künftig nicht in erster Linie mehr Geld zur Verfügung stehen muss. "Die bisher im System enthaltenen Ressourcen müssen intelligenter und zielgenauer eingesetzt werden", heißt es bei Ott und seinen Mitstreitern. Die Trennung zwischen Jugendhilfe und Schulen will man aufheben, Schulen sollen künftig Sponsoren anwerben dürfen, Werbung wird verboten. In sozial schwierigen Stadtvierteln sollen die Schulen besondere Mittel erhalten. Als Mittel gegen soziale Ausgrenzung schlagen die jungen Genossen Schuluniformen für alle vor, an den Schulen soll wieder erzogen werden: "Die Kultur der Gleichgültigkeit muss überwunden werden." (Stuttgarter Zeitung)